Mein altes Hamburg

Andreas Pfeiffer

22587 Dockenhuden/Elbe 

Die Stätte des künftigen Hauptbahnhofes in Hamburg

Von Gustav Kopal; Illustrationen nach der Natur von K. Haase (1900) 

 

Verfallenes Grab auf den Kirchhof zu St.Jacobi.

Wie ein Märchen aus längst vergangenen Jahrhunderten klingt es, was hier von dem Platze erzählt werden soll, den jetzt fleißige Hände für den Bau des künftigen Hamburger Hauptbahnhofes herrichten. Doch vorangeschickt sei eine ebenfalls märchenhafte anmutende Schilderung von Zuständen der Gegenwart, beginnend mit etlichen prosaischen Zahlen. Die Stadt Hamburg ist gerade in einer Neugestaltung ihres Stadtbildes begriffen, wie sie im gleichen Umfang seit den Tagen des Anschlusses an den Deutschen Zollverein, 1881 bis 1888, nicht mehr erlebt hat. Diesmal waren und sind innerhalb des Zeitraumes von April 1899 bis Oktober 1903 Arbeiten fertigzustellen, deren Gesamtkosten auf 64.528.000 Mark veranschlagt werden. Hierfür beschafft werden, außer dem eigentlichen Hauptbahnhof an der Kirchenallee in St. Georg, noch 29 größere und kleinere Bahnhöfe nebst Haltepunkten für Stadtbahn, Vororts- und Fernverkehr, sowie für den Güterversand und zum Verschub, ferner 20 Brücken,  Straßen- und Gleisunter- und überführungen, daneben ausgedehnte Umbauten verschiedener Anlagen. Schon diese Ziffern lassen erkennen, welche Bedeutung der „Bau des Hauptbahnhofes“ für die erste deutsche Welthandelsstadt hat, die an den Kosten mit etwa 20 Mill. Mark beteiligt ist. Der Rest entfällt im Wesentlichen auf Preußen, daneben auf die Lübeck-Büchener Eisenbahngesellschaft (etwa 3.Mill) und die Nachbarstadt Altona (½ Mill). Ungerechnet sind ein von der Reichspost zu errichtendes Eisenbahngebäude, sowie die von Hamburg für die mit der Neugestaltung in Verbindung stehende Verbesserung seiner Straßenanlagen zu tragenden 4.860.000 Mark.  

Am Berliner Bahnhof waren oft Straßenbahnen "Gefangen" zwischen zwei Schrankenanlagen.

Reiflich erwogen und wohl geprüft ist das alles mit echt deutscher Gründlichkeit seit einer Reihe von Jahrzehnten in schier endlos scheinenden Verhandlungen zwischen den preußischen Behörden sowie den übrigen Beteiligten. Aber immer brennender wurde im Lauf der Zeiten die Frage. „Die hamburgischen Bahnhöfe haben nur deshalb eine so schlechte Beleuchtung, damit sie sich nicht nötig haben sich zu schämen,“ erklärte in kühner Redewendung am 14.Februar 1898 ein Mitglied des Hamburgischen Parlaments, der „Bürgerschaft“. Einige Pröbchen mögen veranschaulichen, wie es jetzt noch aussieht: In mitten der Stadt liegt der Klosterthorbahnhof, den täglich 180 bis 190 Züge berühren, mit so bescheidenen Einrichtungen, wie sie ungefähr eine ländliche Haltestelle aufweist; geradezu berüchtigt ist er durch zahlreiche Unglückfälle, unter denen derjenige, der im Herbst 1899 einen Militärzug betraf, in ganz Deutschland Aufsehen erregte; besonders Lebensgefährlich wird’s dort an schönen Sommertagen, an denen sich der Vorortsverkehr auf viele Tausende beläuft. Staunend sieht der Reisende, der im D-Zug die lange Strecke zwischen Klosterthor und Venloer Bahnhof zurücklegt, wie unter Vorantritt zweier Fahnenschwingender und Glockenläutender Beamten die Waggonreihe mitten durch das Gewoge des städtischen Treibens über ein Geleise kriecht, neben dem hunderte von Fuhrwerken aller Art (darunter die Straßenbahnen !!) und Tausende von Fußgängern sich bewegen oder ungeduldig harren, bis die ihnen verlegten Straßen wieder frei werden. Im Ganzen sind in Hamburg einundzwanzig „Niveauübergänge“ zu beseitigen; welches Verkehrshindernis jeder einzelne innerhalb eine von kaufmännischen Treiben erfüllten Großstadt bedeutet, liegt auf der Hand. Und auf solchen „Niveauübergängen“ muss noch dazu oft wegen Mangels an Platz auf den Bahnhöfen rangiert werden! Klingt das nicht für den Eisenbahntechniker außerhalb Hamburgs wie ein fantastisches Märchen? 

 

Der Schrankenwald am Klostertor Bahnhof (im Bild links)
Hier sieht man das Ausmaß des Schrankenwaldes im Bereich des Eisenbahndreiecks Berliner Bahnhof / Klostertor
Im Schritttempo eine Überführungsfahrt eines Schnellzuges vom Bahnhof Klostertor, vorbei am Portal des Berliner Bahnhofs, zum Venloer/Hannorverschen Bahnhofs. Vorweg läuft ein Bahnbeamter mit Fahne um auf die Gefahr hinzuweisen

Doch genug von diesen wundersamen Gebilden auf dem Gebiet des modernen Verkehrswesens! Wenden wir uns einer anderen, von einem Zauber ganz verschiedener Art umflossenen Märchenwelt zu, die sich mit der Erbauung des Zentralbahnhofes in nichts verflüchtigen wird, und der unser Zeichner einige Erinnerungsblätter gewidmet hat. Bereits begonnen ist mit der Umgestaltung, der die Stätte des künftigen Zentralbahnhofes in Hamburg unterzogen wird; Axt und Spaten zerstören gegenwärtig die ehemaligen Friedhöfe von St. Jakobi und St. Georg. Als der hamburgische Staat sich in den 1850er Jahren mit der Kirche auseinandersetzte und die Friedhöfe übernahm, ließ er den bereits längst geschlossenen Beerdigungsplatz zu St.Jakob unberührt, wie wertvoll der Grund und Boden sich auch gestaltet hatte an diesem eigentlichen Mittelpunkt der städtischen Bebauung. Wo der Kaufpreis füglich genügt hätte, um jeglichen Geviertfuß mit Silbermünzen zu bedecken. Ebenso ging es mit dem bedeutend später geschlossenen St. Georger Begräbnisplatz. Die beiden Kirchhöfe „lagen auf Ruhe“. So bildete sich inmitten des immer lauter erbrausenden Gewoges der Handelsstadt eine Insel der Beschaulichkeit von seltener Eigenart, ein Gegenstück zu dem berühmten Judenfriedhof in Prag. Gar manche Maler, Einheimische wie zum Besuche Hamburgs gekommene, fanden dort eine Fülle anziehender Motive, zumal da die Kirchhöfe wegen ihrer Lage an den ehemaligen Wällen und breiten Wassergräben der früheren Stadtbefestigung auch in landschaftlicher Beziehung reich an schönen Punkten waren. Nach der „Vorstadt“ St.Georg zu zieht die Kirchenallee, aus hochwipfeligen Kastanien bestehend, einen waldartigen Hintergrund. Die Kirchhöfe selbst, sowohl, wie auch ihre steilen Abhänge nach dem Wasserspiegel des Stadtgrabens verhüllt eine dichte Bekränzung von Bäumen und hochaufgeschossenen Buschwerk. Gänzlich verschiedenen Charakter trugen die beiden Gottesacker während der letzten Jahrzehnte ihres Bestehens. Der Friedhof von St.Jakobi, der nur äußerst selten einzelnen Besuchern nach Einholung einer besonderen Erlaubnis zugängig war, machte selbst an seinen von der Außenwelt sichtbaren Grenzgebieten einen schauerlichen Eindruck. Nach und nach waren die hölzernen Kreuze und Gitter vermodert, die steinernen Denkmäler eingesunken, verwittert, zusammengefallen; ja selbst zwischen den Quadern der gemauerten Grabstätten drängten sich Baumwurzeln, die beim weiteren Wachstum auch die festesten Gefüge auseinandersprengten. Ein solches düsteres Bild hat der Stift unseres Zeichners festgehalten. Mit Ausnahme weniger derartig unheimlicher Ruinen und einer verfallenen kleinen Kapelle sah man auf dem Friedhof, wenn man durch das ihn umgebende Eisengitter blickte, fast nichts, was an die ehemalige Bestimmung des Ortes erinnert hätte. Die Blumen und die Ziersträucher waren verschwunden; hässliches Gestrüpp und hochaufgeschossenes Unkraut hatten alle zarteren Pflanzen erstickt; das ganze bildete eine grauenhafte Wildnis. Wer den Kirchhof betrat, musste sich selbst bei hellem Sonnenschein hüten, auf der Suche nach den ehemaligen Pfaden nicht in die unter den Gräser- und Blätterhüllen klaffenden Grabhöhlen zu versinken. Es heißt, dass dort große Scharen von Ratten und anderen Nagetieren gehaust haben; auch von noch schlimmerem lichtscheuem Gesindel, und zwar von menschlicher Art, sollen bei der Räumung Spuren entdeckt worden sein. So findet die Schauerromantik, die man ausgestorben wähnte, immer noch Raum zur Entfaltung selbst in der modernen Großstadt.

 

 

Die KIrchenallee 1899 vom Steintorplatz aus gesehen. Das "Wäldchen" an der linken Seite ist der schon lange geschlossene Friedhof von St.Jacobi und St.Georg.

Wie wesentlich anders wirkte der St. Georger Friedhof! Wohl wurden auch hier nur noch wenige, sehr wenige Gräber von den Angehörigen der dort Ruhenden in Stand gehalten; die Mehrzahl lag arg vernachlässigt da, und kaum ließensich die wege noch erkennen. Die Zerstörung und Verwilderung hatte aber nicht entfernt den grad erreicht wie bei St. Jakobi. Zur schönen Jahreszeit fehlte es hier tagsüber nie an spielenden Kindern, die nach den vielen Schmetterlingen haschten, und den zahlreichen malerischenPunkten erfreuten sich nicht nur , wie schon erwähnt , die Jünger der Kunst St.Lukas, sondern auch manche Spaziergänger. Vollends für Freunde der naturwissenschaften bot sich der weite Raum (er hatte etwa 7000 Särge aufgenommen) einen hochgeschätzten Fundort aller möglichen Seltenheiten, eine Art Urwald, wo man Gegenstände auffand, nach denen man meilenweit ringsum vergeblich suchen konnte, beispielsweise, was die Pflanzenwelt anbelangt, den gefleckten Aaronstab (Arum macalatum), die wilde Tulpe (Tulipa sylvestris), den Weinlauch (Allium vineale). Im Buschwerk nisteten zahlreiche Singvögel: manche Hamburger wanderten an Frühlingsabenden eigens nach der Kirchenallee, um die Nachtigallen auf dem Friedhöfe schlagen zu hören. Zwischen den Grabsteinen hüpften grüne Laubfrösche, daneben kroch der schwarze gelbgefleckte Feuersalamander (Salamandra maculata), eine große Seltenheit auf diesem Gebiet, und zahlreiche Igel lagen der Mäusejagd ob. Und das alles recht im Herzen eines Städtekomplexes von einer Million Einwohner! Hier wohnte auch die „älteste Familie Hamburgs“, wie sie scherzweise einmal genannt wurde, eine Kolonie grauweißer Weinbergschnecken (Helix pomata), zur Zeit als Hamburg noch katholisch war war, als Fastenspeise im eigenen Schneckengarten gezüchtet, die in Hamburg am Wallabhange lagen. Noch vier Jahrhunderte nach der Reformation waren die Tierchen ihrem Stammsitze treu geblieben, bis die Kultur in diese Wildnis drang. Auch ihrem alten Geschlecht schlugen die letzten Stunde vom Kirchturm von St.Georg, dem Hübschen, 1747 im Barockstil ausgeführten Bauwerk, dessen Kupferbekleidung einen außerordentlichen schönen hellgrünen Edelrost trägt, und dessen Formen damals vorbildlich selbst auf bedeutende Baumeister wirkten. Unser Zeichner hat ihm sein drittes gewidmet. Mancherlei hat der treue Wächter dieser Gemeinde erlebt. Daß er, damals über eine recht bescheidene Vorstadt gesetzt, dereinst noch auf den Mittelpunkt der gewaltig entwickelten Stadt und zugleich auf denjenigen des Eisenbahnetztes Hamburgs stolz herabblicken werde, hater sichwohl nicht träumen lassen. Vielleicht beschleicht auch ihn, wie so manchen alten Hamburger, einige Wehmut, daß es jetzt zu scheiden gilt, von der aus längst entschwundenen Tagen übrig gebliebenen Märchenwelt der alten Friedhöfe!

 

 

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