Wattfahrten

Von Arthur Obst (1903)

 

 

Wattfischer auf dem Eis

Zwischen den Mündungen der Elbe und der Weser erstreckt sich ein weites Gebiet, die Wattengründe genannt, dass innerhalb von 24 Stunden das Aussehen zweimal verändert. Zur Flutzeit Meeresboden und eine Fläche mit der “unersättlichen” Nordsee, steigt es zur Ebbe aus den Tiefen gewissermaßen empor und bildet ein Flachland, auf dem Menschen und Vieh gehen, ja sogar beladene Wagen fahren können. Nur wenige, nicht allzu tiefe Priele oder Tillen unterbrechen die Ebene, so das der Mensch fast trockenen Fußes - wie die Juden durch das Rote Meer – von beiden Seiten von der brandenden See umgeben, von Küste zu Küste schreiten kann. Seitdem ich, vor etwa zwanzig Jahren, zum ersten Male diesen Merkwürdigen Boden betreten habe, packen mich im Dahinschreiten auf dem harten Sand, den der ihn unaufhörlich treffende Wellenschlag festgeschlagen hat, jedesmal eigentümliche Gedanken. Ich muß darüber nachsinnen, wie hier vor mehr denn zwei Jahrtausenden blühende Felder gewesen sind., wie die Küstenbewohner zu beiden Seiten des Elbemeerbusens, gleich wie noch heute Leute desselben oder verwandten Stammes, friedlich ihre Rinder weideten, wie Scharhörn, jetzt ein gefährlicher Elbsand, noch die “steile Kante” des südlichen Frieslands war, und Helgoland noch so dicht dem Festlande vorgelagert war, daß die Hirten von hüben und drüben sich durch Zeichen einander verständlich machen konnten. Dann kamen jene furchtbaren Naturereignisse, deren Kunde uns durch die Wanderung der mit ungeheuren Schrecken in die Welt einbrechenden Kimbern und Teutonen erhalten ist  Nähere Nachrichten über die gewaltige Sturmflut fehlen uns fast gänzlich, aber wir haben Ihre Wirkungen noch heutigen Tages vor Augen: alle die anderen Überschwemmungen und Stürme an unserer Nordseeküste, die “große Mannsdränke” von 1362, die Dyonisusflut von 1373, die “Cäcilienflut” vom November 1412, die beiden Sankt Gallenfluten, die furchtbare Sturmflut von 1634, der die einst so blühende Insel Nordstrand zum Opfer fiel, und endlich die Vollmond- Springflut in der Nacht auf den 4. Februar 1825 haben nicht so schlimm gerast wie die “kimbrische Flut”. Sie haben die zwischen den Inseln klaffenden Spalten erweitert, aber die eigentliche Vernichtung all des blühenden Lebens hat jene Überschwemmung gebracht, die die Kimbern und Teutonenbewog, ihre heimatlichen Sitze zu verlassen und als die ersten Mahner kommenden Verderbens an die Pforten des römischen Reiches zu pochen. 

 

Wattfischen im Winter

Nun liegen die Watten verlassen da; nur während der Flut fährt, vorsichtig dem Priel folgend, eine Fischerschmack oder ein Steinewer durch das flache Wasser, und dreimal wöchentlich holpert zur Ebbe die Wattpost von dem hamburgischen Stranddorf Duhnen nach der Insel Neuwerk, dem bescheidenen Reste einst blühender Dörfer, der einzigen Oase in dieser Wüste von Salzwasser, Sand und Schlick. Ein sonderbares Fuhrwerk, diese Wattpost! Voran reitet auf stolzem, starken Bauernroß  der Wattlotse, gewöhnlich eine prächtige Gestalt, der der Südwester zu dem braunen Gesicht und den blauen Friesenaugen trefflich steht; dann folgt  der Bauernwagen, der keine Feder kennt und die Wattfahrer gehörig durchrüttelt, -- das Frühstück schmeckt gewöhnlich vortrefflich nach solcher Tour. Bei ablaufendem Wasser verlässt die Post den Strand.; die Räder bohren sich tief in den hier noch nicht vom Sand des Meeres bedeckten Marschboden und werfen dicke Kotmassen auf.    Dann aber wird das Terrain fester, und das rütteln beginnt; die den Weg durch das Watt kennzeichnen, und getreulich folgt der Wagenlenker seiner Spur, denn er weiß ganz genau, auch ein nur geringes Abweichen von dem vorgezeichneten Pfad bedeutet höchste Gefahr. Häufig befindet sich dicht neben ganz festen Boden der Mahlsand, aus dessen gefährlicher Nähe ein Wagen oder Pferd selten entkommt. Der Wattkundige Lotse will ihn an den Miesmuscheln erkennen, die sich am Rande einer so gefährlichen Stelle ansiedeln. Gerät ein Wagen da hinein, so sitzt er fest und alle Bemühungen, ihn zu befreien, “mahlen” ihn nur noch tiefer hinein. Schon mancher, der der drohenden Flut glaubte glücklich entronnen zu sein, musste dicht vor dem Strand, ein im Land halb Begrabener, die Flut über sich hereinbrechen sehen und mit ihr das ewige Schweigen. Und umso gefährlicher sind diese Stellen, als häufig schon eine Flut ihre Lage verändert; wo noch kurz vorher fester Boden war, treibt bereits wenige Stunden darauf der verderbenbringende Sand sein Unwesen. -- Deshalb heißt es, vorsichtig sein, und sorgsam sind unsere beiden Führer; auch die Pferde sind zuverlässig, sie, die schon so oft das Watt nach allen Richtungen durchquert haben, kennen die Tiefen und Sände. So können wir uns denn dem Zauber einer Wattfahrt ruhig überlassen, und ein merkwürdiges Bild ist es in der Tat, das sich vor unseren Blicken entrollt. Unter dem wolkenlosen Himmel liegt die weite Fläche, wie in Silber gebadet, vor uns; nach Ost und West weiter nichts als diese schillernde Ebene, worin sich die Sonne spiegelt, abgeschlossen durch das Meer, dessen Rauschen wie aus weiter Ferne grollend an unser Ohr klingt.

 

Wattfischer beim Netz einziehen

Zurückblickend sehen wir das alte Stranddorf mit seinen Strohdächern und dem niederen mit Strandhafer bewachsenen Deich, vor uns nach Norden schließt das Panorama der massige Leuchtturm der Insel Neuwerk, einstmals vielleicht eine Schutzburg gegen die Normannen, dann ein Sitz der hamburgischen Ratsherren und Vögte, jetzt ein Pharos an der Mündung des Elbstromes. So die Szenerie, um uns aber lebt und webt es: dort eilt vor den zerschmetternden Hufe der Rosse ein verebbter Taschenkrebs hinweg, und nicht weit davon stolziert auf langen Beinen ein Regenpfeifer, der mit seinen klagenden Tönen das himmlische Nass herbeirufen soll, durch die mit spärlichen, Muscheln besetzten Algen bewachsenen Flächen. Seeschwalben flattern zu tausenden auf und nieder, Seemöwen und Austernfischer, ruhigeren Fluges spähen nach Beute aus oder starren einen Seehund an, den das Wasser mitten im Watt hat liegen lassen und der nun verzweifelt Anstrengungen macht, eine der Priele zu erreichen. Zumeist gelingt es ihm, bisweilen aber ereilt ihn auch ein wohlgezielter Schuß, den der Wattlotse, ein Reisender oder sonst ein Wattjäger ihm zu teil werden läßt. An unser Ohr dringt ein leises knistern und knastern, und wir lassen uns belehren, daß dies teilweise von den versickernden Wasser, teilweise auch von den Schlickwürmern herrührt, die im Watt kleine Maulwurfshügel aufwerfen und dadurch dem Fischer, der die Tierchen gerne an die Angel steckt, den Platz verraten, an dem er sie finden kann. Über dem allen aber schwebt der würzige Duft des Meeres, der Salzgehalt der Luft, der erquickend in alle Poren dringt und den Genuss verstärkt, der in solcher Wattenfahrt liegt. 

 

Netze Trocknen

Hoppla! Da werden wir etwas unsanft aus unseren Träumen gerüttelt; unser Wagen durchfuhr einer der Priele, die starken Elbstrom zeigt und uns dadurch die Gewißheit gibt, daß wir am Ziel unserer 10 km langen Fahrt nicht nur rechtzeitig anlangen sondern im Notfall auch mit wendender Post das Festland wieder erreichen können. Die Pferde stampfen in dem salzigen Wasser, daß uns die Gischt bis ins Gesicht spritzt  und wir nicht selten die Füße hoch ziehen müssen, um von dem in den Wagen flutenden Wasser keine nassen Füße zu bekommen. Aber bald ist wieder fester Boden erreicht, und im munteren Trabe geht es bis zum nächsten Priel. Hier Dasselbe Bild, - doch dadurch abwechslungsreich, daß uns “Knath”- Fischer begegnen: es sind Insulaner, die Weiblein wie die Männer mit Hosen angetan, die schmackhaften Nordseekrabben ihrem Element entreißen. Alle Augenblicke werfen sie ein Netz voll ihrer glibberigen, glitzernden, springenden und hüpfenden Ware in den am Arm getragenen Korb, und weiter geht es unermüdlich dem Strom entgegen. 

Endlich ist Neuwerk erreicht! Die völlig eingedeichte etwa 360ha große Insel wird von dem uralten Leuchtturm überragt; in Ihm fand man früher gastliche Aufnahme, jetzt bewirtet ein Wächter auf der Hauptstelle die Fremden, -- aber mit Interesse besichtigt ein jeder noch den Koloss, der nach dem Muster jener Normannentürme erbaut ist, die wir noch heute im Süden Englands finden. Seine ältesten Teile gehen bestimmt bis in das 13. Jahrhundert zurück; da er genau dieselben gewaltigen Dimensionen zeigt, wie das Schloß Ritzebüttel bei Cuxhaven, so ist anzunehmen, daß beide Bauten nach einem gemeinschaftlichen Vorbilde errichtet sind und die Erbauer dieser ersten Burg ihre Bautechnik in England gelernt haben, was in der Rückwanderung der Angeln und Sachsen in Britannien in diese Gegend eine historische Stütze findet. Die jüngeren Teile des Turmes stammen aus dem Ende des 14.Jahrhunderts; die Mauern sind so stark, daß in den Fensternischen drei Personen nebeneinander bequem sitzen können. Eine Wendeltreppe führt zur Leuchtkrone hinauf, und hier biete sich ein herrlicher Ausblick über Land und Meer. Dort sieht man alle Sande liegen, die die Einfahrt in die Elbe so gefährlich machen: Großvogelsand, Kleinvogelsand, Wester-Telte, Scharhörn, Knechtsand. Drüben schimmert vom “hohen Weg” der Weser Leuchtturm, und in weiter Ferne erblickt man bei hellem Wetter Helgoland. Der Turm mit seiner alten geheimnisvollen Geschichte hat von jeher Künstler und Dichter angezogen; das Fremdenbuch des Vogtes ist reich an prächtigen Zeichnungen und Poesien. Von allen sei nur ein Gedicht, das Justinus Kerner, der bekannteste unter den “Sängern “ des Turmes in Das Buch, das bereits Eintragungen aus der Franzosenzeit enthält, 1842 eigenhändig eingeschrieben hat:

 

Sei mir gegrüßt, du Turm, Nachbar vom Meere,

O, wenn ich doch wie du gewesen wäre!

 

Du standest fest in Sturm und wilden Wogen,

Indessen mich ein leichter Wind gebogen.

 

Erneut strahlt dir das Auge lichtvoll immer,

Während mein Auge bleibt in trüben Schimmer.

 

 

Neuwerk 1804

Aber ich wollte ja nicht von dem alten Turm erzählen, sondern von den Fahrten ins Watt. Ich bin oft dort eingekehrt. Bald kam ich mit einem Segelboot und ließ mich in einem Priel bis in die Nähe des Eilands rudern, und lief dann übers Watt, die nackten Füße vom Seewasser umspült, dem Deich zu, oder ich kam, wie oben geschildert, im Wagen. Immer war mein Domizil der alte Turm. Einer der beliebtesten Spaziergänge ins Watt war der nach der Nord- oder Verdunkelungsbake. Dieses 17m hohe Baugerüst steht mitten im Wasser, aber zur Ebbe kann man das Seezeichen trockenen Fußes in zehn Minuten erreichen.  Vor zwanzig Jahren sprach ich mit einem Insulaner; er versicherte mir bestimmt, daß in seiner Jugendzeit diese Bake noch ebenso von grüner Weide umgeben war wie noch heute die Ost- oder Klappmützenbake. So weit war das Land in kaum zwei Menschenaltern abgebrochen, und erst jetzt, nachdem der Hamburgische Staat geeignete Uferbefestigungsbauten mit großen Kosten ins Werk gesetzt hat, wird der Landverlust einigermaßen vermindert. Eine andere, vom Pfarrer Kneipp jedenfalls als sehr gesund empfohlene Morgentour war ein Zug mit dem “Garnelenfischern” zum Fan; freilich, so ganz trockenen Fußes ging es dabei nicht ab, aber umso herrlicher schmeckte nachher das Mittagessen, bei dem die gewaltigen Wurster Mehlklöße den Hauptbestandteil bildeten.

Krabbenfischer

Damals wohnte auf dem Turm ein alter Vogt, mit dem ich mich sehr gern unterhielt, soweit das seine Taubheit zuließ; er war früher Lehrer gewesen und hatte eine recht umfangreiche Bildung genossen, so daß er wohl imstande war, seine Gäste auf die verborgenen Schönheiten der ihn umgebenen Welt aufmerksam zu machen. Als wir eines regnerischen Abends bei dampfendem Grog in einer der Turmnischen saßen, meinte er, ich sollte mit ihm einmal die Scharhörn-Bake besuchen; er müsse pflichtgemäß sowieso einmal revidieren, und wenn ich mitkommen wollte, Platz wäre genug im Wagen. Ich sagte zu, und als es sich abgeregnet hatte, kutschierten wir eines schönen Morgens nach Nordwesten zu ins Watt hinein. Dasselbe knisternde Geräusch, das in einem fernen Rauschen unterging, umgab uns: schier endlos dehnte sich vor uns das im goldenen Sonnenschein funkelnde Watt. Unterwegs sahen wir Wrack von Schiffen, meistens alte Holzkasten, an denen nicht nur die Meeresfluten, sondern auch die Strandbewohner wacker gearbeitet hatten, und nicht weit von unserem Weg wies der Knecht des Vogtes auf eine Stelle, wo er vor Jahresfrist die Leiche eines Matrosen der untergangenen “Cimbria” gefunden hatte. Unerkannt war der Verunglückte auf dem “Friedhof der Namenlosen” beigesetzt worden

 

Nur ein Kreuz und d’rauf die Nummer,

Jahreszahl und Bergungstag,

Schmückt das Grab, um das in die ferne

Bange Liebe weinen mag

 

Nach anderthalbstündiger Fahrt waren wir bei der mächtigen Bake “scharhörn” (friesisch Storhörn = steile Kante) angelangt; eine aus schwarzgeteerten Eichenbalken gezimmerte Treppe führte in das Häuschen hinauf, das weit über Fluthöhe liegt und landenden Schiffbrüchigen eine sichere Zuflucht bietet. Eine schütte Stroh, Schiffszwieback und einige Flaschen Wein finden sie dort immer bereit. Nachdem wir uns an dem Nachdem wir uns an dem mitgebrachten Frühstück etwas gestärkt hatten, schritten wir den Breiten Sand, auf dem sich die Bake auf gewaltigen Felsenquadern erhebt, ab. Das war also der arme Rest der einst so weit ins Meer vorgestreckten friesischen Halbinsel, und das Meer jetzt so fern und friedlich seine Wellen im Sande verrinnen ließ, hatte sich wie ein gewaltiger Riese erhoben und all die blühenden Weiden, die Dörfer und Wiesen in graue, ewig gleiche Sandwüsten verwandelt, aus denen kein Leben mehr blüht.

 

Heimkehr vom Krabben fischen

Mir blieb nicht lange mehr Zeit, über dieses unaufhaltsame Vernichtungswerk nachzugrübeln: der Vogt mahnte zum Aufbruch, da die Flut uns sonst überraschen könnte. Für diesmal ließ ich’s gut sein, bei nächster Gelegenheit aber ließ ich mich wieder hinüberfahren nach Scharhörn und blieb auch eine Nacht in dem einsamen Hause im Wattenmeer. Wie herrlich sahen die Gründe erst im Mondschein aus: als sei ein Silbermantel über das Ganze ausgebreitet, so lagen sie da. Unheimlich rauschte das Meer in der Ferne, von Helgoland und dem hohen Weg blinkten die Leuchtturmlichter; grüne und rote Lichter tauchten auf dem Elbstrom auf, und an Ihnen erkannte ich die große Zahl der ein- und ausfahrend Schiffe.   Der Strahlenkegel des Neuwerker Leuchtturmes spiegelte sich im Watt; sein Schein hob sich rötlich vom Silberlicht des Mondes ab. Oft huschten dunkle Schatten darüber hinweg; es waren Vögel, die dem Licht entgegenzogen, und es fiel mir ein Gedicht ein, das ich einmal irgendwo gelesen hatte:

Ins Meer hinaus der Leuchtturm strahlt,

Umbraust von den brandenden Wogen.

Von Heimweh getrieben, aus fernem Süd,

Im Dunkel verflattert, verstrich, verschmachtet und müd’

Ein Vöglein kommt gezogen,

 

Es sieht das Licht, froh fliegt es heran,

Leis’ klirren die Eisensprossen,

Und jählings hinunter ins Dunkel es Fällt,

Die Schwingen gebrochen, den Kopf zerschellt,

Zum Licht! - Wer zählt die Genossen!

 

   - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -

 

Lang, lang ist’s her! Lange bin ich nicht mehr durch die Watten gefahren, lange nicht mehr auf ihrem harten Rücken gewandert, aber freudigen Herzens gedenk’ ich der fernen Zeit, und ein Hauch frischen Meeresodems umweht mich erquickend, während ich diese Erinnerung schreibe.

 

 

Druckversion | Sitemap
© Mein altes Hamburg